Auswandern oder bleiben?
Um 1900 lebten etwa 1.000 Juden im heutigen Rhein-Hunsrück-Kreis, deren Zahl bis 1925 auf nur noch 673 abnahm. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts wanderten viele in die nahen Großstädte ab. Andere wagten den Schritt ins Ausland. Mit Beginn der nationalsozialistischen Repression wuchs die Suche nach einer sicheren Zufluchtsstätte. Durch die enge Einbindung in das soziale und wirtschaftliche Leben auf dem Lande zogen viele eine Auswanderung jedoch erst spät in Betracht. Unvorstellbar, dass sich Freunde, Nachbarn, Geschäftspartner gegen sie wenden könnten. Die Reichspogromnacht wurde zur Zäsur, in deren Folge sich auch jene, die sich in Sicherheit wähnten, zum Handeln gezwungen sahen.
Im Fall der Stadt Kirchberg hatten bis 1939 alle jüdischen Bewohner ihr einstiges Zuhause verlassen. Sie zogen in die Großstädte zu Verwandten, suchten die Anonymität und den Rückhalt einer jüdischen Gemeinde. Wem es gelang ein Visum zu erhalten, ging in das benachbarte Ausland. Doch mit Ausbruch des Krieges wurden sie auch dort von der nationalsozialistischen Verfolgung eingeholt.
Auseinandergerissen
"Meine Mutter brachte mich mit dem Zug aus unserem kleinen Dorf nach Luxemburg. Das war tatsächlich keine große Entfernung, aber es schien für immer zu dauern. Und ich fühlte, als ich in den Zug für das letzte Stück nach Luxemburg gesetzt wurde, dass sich die Räder drehten und mich von meiner Mutter wegrissen."
Zum schnellen Handeln gedrängt, rissen Auswanderungspläne viele Kernfamilien auseinander. Eltern versuchten zunächst ihre Kinder in Sicherheit zu bringen, in der Hoffnung, ihnen bald folgen zu können. Briefe zeugen von den Versuchen, Normalität vorzugeben, aber auch vom verzweifelten Warten auf die geringsten Lebenszeichen. Augenzeugenberichte erzählen vom Zusammenbruch des Simon Grünewald aus Rheinböllen auf offener Straße, nachdem dieser den letzten seiner drei Söhne Herbert, Ernst und Leo verabschiedet hatte.
... aber wohin?
Während Auswanderung eine Freiwilligkeit voraussetzt, wurde das Verlassen der Heimat für die Juden in Deutschland mehr und mehr alternativlos. Doch mit den steigenden Flüchtlingszahlen nahm die Aufnahmebereitschaft der Zielländer ab. Das Ausreiseverbot vom 23.10.1941 setzte der legalen Auswanderung ein entschiedenes Ende.
Nur in wenigen Einzelfällen kehrten Überlebende aus dem Hunsrück dauerhaft nach Deutschland zurück. Die meisten zogen es vor, dem nicht verschwundenen Antisemitismus und den früheren Peinigern sehr bald durch Weiterreise zu entgehen. So begannen sie und ihre Angehörigen ein neues Leben in Israel, Südafrika, Dominikanische Republik, Bolivien, USA, Argentinien und Australien.
Die Slideshow gibt einen Einblick in ausgewählte Schicksale.
Von Rheinböllen nach Montevideo - Eine Fluchtgeschichte
Im Dezember 1939 gelang dem 17jährigen Leo Grünewald aus Rheinböllen und seiner Cousine Inge Grünewald die Flucht aus Nazi-Deutschland. Gemeinsam überquerten sie mit dem Dampfer Conte Grande den Atlantik von Genua nach Montevideo in Uruguay.
Ende des Jahres 2018 tauchten persönliche Dokumente von Leo Grünewald im Internet auf und wurden zum Verkauf angeboten. Darunter befanden sich Geburtsurkunden, Arbeitszeugnisse, Billets seiner Ausreise nach Uruguay, eine Heiratsurkunde, diverse Fotos etc. Seine Familie erwarb die Dokumente und überließ sie 2019 dem Forst-Mayer-Zentrum in Laufersweiler. Anhand der Dokumente lassen sich wichtige Stationen seiner durch Emigration geprägten Biografie nachvollziehen.
Inge Ariel Grünewald erzählt von der Flucht
Als Inge Grünwald im Dezember 1939 gemeinsam mit ihrem Cousin Leo aus Deutschland flüchtet, ist sie gerade einmal neun Jahre alt. Ihrem Halbbruder Edgar und einer Tante aus Bad Kreuznach war bereits 1936 die Ausreise nach Uruguay gelungen - dies war auch ihr Ziel. Ihre Erinnerungen an den Vater, den Abschied aus ihrer Heimatstadt Frankfurt und den beschwerlichen Weg, der sich in Uruguay anschließt, kann Inge Grünewald 2019 noch mit eigener Stimme schildern.