Geschichte der Familien Ochs

Karen Ochs-Amsterdam (Kalifornien, USA, 2025)
Die Familien Ochs in Gemünden
– Das Schicksal der Familie von Thekla und Salomon
Zu der Zeit der Nazis reichte die dokumentierte Geschichte der jüdischen Ochs-Familien aus dem Hunsrücker Dorf Gemünden ungefähr 200 Jahre zurück. Über die Jahrhunderte wuchs die Ochs-Familie Gemündens in etliche Zweige. Diese Familiengeschichte wird sich auf den Ast von Thekla und Salomon Ochs fokussieren
Meine Großmutter, Helene, war das jüngste Kind von Thekla und Salomon Ochs. Helene („Lena“) war das einzige Kind, das im 20. Jahrhundert geboren wurde. Sie wuchs in den Anfangsjahren des neuen Jahrhunderts mit ihren fünf Geschwistern in Gemünden auf. Während der Zeit des Ersten Weltkrieges und etwa 20 Jahre danach lebten alle sechs Kinder von Thekla und Salomon Ochs in Deutschland, entweder in oder in der Nähe von Gemünden.
Allerdings, gegen Ende des Zweiten Weltkrieges 1945, waren nur noch Helene (welche 1939 aus Deutschland floh und die Kriegsjahre in Shanghai, China verbrachte) und einer ihrer Brüder (Ludwig/Louis Ochs, welcher in die USA geflohen war) am Leben.
Die vier anderen Geschwister von Ludwig/Louis und Helene sowie ihre Eltern und der Großteil ihres weiteren Familienkreises aus Gemünden, starben in den späten 1930ern und in den ersten Jahren der 1940er. Einige der Ochs-Familie wurden in Konzentrationslager ermordet, andere jedoch verschwanden unter Umständen, die auf Naziverfolgung hinweisen.
Helene und Ludwig/Louis fanden nie das genaue Schicksal ihrer Eltern heraus. Salomon und Thekla Ochs starben beide im Frühling von 1942 in einem sogenannten „Judenhaus“ in Nürnberg in der Knauerstr. 27. Die Todesumstände sind bisher ungeklärt, da die offiziellen Urkunden Zweifel an einem natürlichen Tode aufkommen lassen. Die übrigen Bewohner dieses Hauses wurden kurze Zeit später deportiert. Außerdem fanden die beiden Überlebenden nie heraus was genau ihren älteren Geschwistern, Erna und Theodor, die beide ungefähr zur gleichen Zeit wie ihre Eltern verschwanden, zugestoßen war.
Nur die Namen von zwei Kindern von Thekla und Salomon Ochs sind auf dem Gemündener Denkmal verzeichnet - Waldemar "Walter" Ochs und Herta Oster. Beide sind außerdem auch in dem Gedenkbuch des Bundesarchivs als Opfer der Naziverfolgung verzeichnet.
Bedauerlicherweise sind viele Details über das Leben von Walter und Herta verlorengegangen, zusammen mit Details der 200 Jahre alten Geschichte der Familie aus Gemünden. Aber dank der Arbeit fleißiger Forscher in Deutschland und den Niederlanden, gibt es nun ein paar Informationen über Waldemar "Walter" Ochs (1894-1945) und seine Schwester, Herta Oster (geborene Ochs; 1898-1941).
Im Folgenden ist die Geschichte der zwei Ochs-Geschwister kurz wiedergegeben. Sie wurden beide in Gemünden geboren und sind dort aufgewachsen, gemeinsam mit meiner Großmutter, Helene, welche mit mir stückchenweise Informationen über ihr Leben teilte, als ich ihr ungeschickt ein paar Fragen über unsere Familiengeschichte stellte. Ich stellte ihr diese Fragen in einem „Interview“, das ich nicht lange nach meiner kurzen Tätigkeit als Reporter für meine High School Zeitung mit ihr hatte. Diese „Dienstperiode“ geschah in einer Zeit, als Interviews noch mit Stift und Notizbuch protokolliert wurden. Bedauerlicherweise entschied ich mich zu diesem Anlass für ein recht kleines Notizbuch.
Waldemar "Walter" Ochs wurde mit dem silbernen Kreuz für seinen exzellenten Dienst für Deutschland im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet. Also fühlte sich Walter in der Anfangszeit der Nazi-Herrschaft „geschützt“ durch seine Militär-Medaille.
Walters Ehefrau, Paula (geborene Paula Hanau aus Fraulautern, geb. 1904), brachte ihre Tochter, Marlene, sechs Monate nachdem Hitler, zu Beginn 1933, in Deutschland Kanzler wurde, zur Welt. Aber Mitte der 1930er hatte sich der Antisemitismus in einem besorgniserregenden Ausmaß ausgebreitet.
Also, als Marlene ein Kleinkind war, trafen Paula und Walter die schwere Entscheidung Deutschland zu verlassen, das einzige Land, das sie jemals kannten. Das Paar wollte ein neues Leben in einem Land starten, in dem ihre Tochter in die Schule gehen könnte und die Chance auf eine normale Kindheit hätte. Die Familie entschied sich für die Niederlande.
Während ihrer Zeit in den Niederlanden kauften Walter und Paula Ochs ein Haus und gründeten schließlich einen Betrieb, einen kleinen Schönheitssalon. Jedoch hielt die glückliche Zeit der Familie Ochs in den Niederlanden nicht lange an. Die Nazi-Invasion des Landes im Jahre 1940 war der Beginn ihres Endes.
Keiner in der Familie von drei überlebte den Krieg. Paula (Alter 39) und Marlene (Alter 11) wurden im Oktober 1944 am gleichen Tag in Auschwitz ermordet, während Walter nur ein paar Monate länger in dem berüchtigten Todescamp überlebte.[1]
Das Todesdatum, welches für Waldemar "Walter" Ochs genannt wird, ist eigentlich mehrere Wochen nachdem die Rote Armee Auschwitz befreite. Demnach ist sein offizieller Todestag – Februar 28, 1945 –vielleicht nur der Tag, an welchem sein Ableben gemeldet wurde. Oder vielleicht war er zu krank und/oder zu unterernährt, um mehr als ein paar Wochen nach der Befreiung zu überleben, sogar nachdem er mit Essen und medizinisch versorgt wurde.
Später in 1945, nachdem der Zweite Weltkrieg endete, lebte meine Großmutter, Helene, immer noch mit ihrem Ehemann und ihren Kindern (von welchen einer mein Vater ist) in Shanghai. Von den Informationen, welche ich stückchenweise als Kind über die „Shanghai-Jahre“ meiner Familie zufällig mithörte, waren die Neuigkeiten über den Tod von Walter Ochs und seiner Familie. Sie waren ein fürchterlicher Schock für meine Großmutter. Während der Kriegszeiten glaubte Helene, dass das silberne Kreuz ihres Bruders ihn und seine Familie vor dem schrecklichen Schicksal der meisten deutschen Juden, welche Europa nicht verlassen hatten, bewahren würde.
Unter den deutschen Juden, welche in Europa verweilten, war Herta Oster, das vertrauteste Geschwisterkind meiner Großmutter. Herta war nur zwei Jahre älter als ihre Schwester Helene. Als ich ein Kind in den 1970ern war, sah ich ein altes Foto der zwei Schwestern, welches zeigte, dass ihre Gesichter einander sehr ähnlich waren, fast wie die Gesichter von Zwillingen.
Kürzlich, als ich ein Bild von Herta mit Ihrem Ehemann Berthold Oster sah, aufgenommen am 4. August 1938, war es, als sähe ich ein altes Bild meiner Großmutter. Aber die Wege der zwei Schwestern gingen recht weit auseinander in den Monaten nach dem Sommertag, an dem das Foto gemacht wurde. Ungefähr ein Jahr später lebte meine Großmutter, zusammen mit ihrem Ehemann und Kindern, in relativer Sicherheit in China, während Herta und Berthold Oster Deutschland nicht verlassen hatten.
Viele Jahre wunderte ich mich, ob es einen Grund gab, warum Berthold und Herta in Deutschland geblieben waren. Nur Wochen bevor diese Ochs-Familiengeschichte geschrieben wurde, wurde dieses Mysterium endlich gelöst (zumindest teilweise), mit der Hilfe von Steffen Wilberts weitreichender Recherche über die jüdischen Bürger aus drei Dörfern im Rhein-Lahn-Kreis, eins davon Nochern, das Dorf in welchem Herta und Berthold Oster lebten.
Wilberts Recherche über die Nocherner Juden enthielt auch die Geschichte von Berthold Oster: Dieser hatte sich das Verdienstkreuz im Ersten Weltkrieg „vedient“. Niemand wird es je wirklich wissen, aber es ist möglich, dass Bertholds Militär-Ehrung ihm die gleiche Illusion wie seinem Schwieger-Bruder, Walter Ochs, gab - der falsche Glaube in den 1930ern innerhalb der deutsch-jüdischen Bevölkerung, dass ein Jude, der ein silbernes Kreuz für seine heldenhaften Dienste nur 15-20 Jahre zuvor erhalten hatte, ein „beschützter“ Jude war.
Jedenfalls zeigt Nocherns Geschichte, dass nach dem Ersten Weltkrieg der Bürgermeister des Dorfes Berthold Oster in des Dorfes „Heldenbuch“ eintrug. So existiert immer noch ein Foto von Berthold in seiner Militäruniform.
Ungefähr ein Jahr nach dem Krieg brachte Bertholds erste Frau ihren Sohn, Erwin, zur Welt. Im Jahre 1931 heiratete Berthold, ein Witwer mittleren Alters, Herta in Nochern (für beide war es die zweite Ehe). Die Osters zogen Erwin für mehrere Jahre in Nochern groß. Aber in der Mitte der 1930er, als Erwin 16 Jahre war, schickten sein Vater und seine Stiefmutter ihn in die USA, um der Nazi-Tyrannei zu entfliehen. Erwin schaffte es sicher zu seinem neuen Zuhause, aber Berthold und Herta folgten ihm dorthin nicht. Steffen Wilbert beschreibt passend die fatale Entscheidung der Osters, in Deutschland zu bleiben oder bleiben zu müssen: Entweder wegen mangelndem Geld für zwei weitere transatlantische Schiffstickets, oder wie vorhin schon erläutert, wegen des Glaubens an die „schützende Macht“ eines Verdienstabzeichens.
Aber die vorherrschende Kindheitserinnerung, die ich bezüglich Herta habe (deren Namen vielleicht zwei oder drei Mal in meiner Anwesenheit fiel), war der traurige Gesichtsausdruck meiner Großmutter, wenn sie den Namen ihrer Schwester hörte. Auch wenn die zwei Silben in „Herta“ mit einer weichen, ruhigen Stimme gesprochen wurden, schien es als würde meine Großmutter nur vom Hören des Namens Schmerzen erleiden. Für mich, ein Kind in den USA, klang der Name „Herta“ wie das englische Adjektiv „hurt“ (= verletzt) … und in meinen Gedanken schien das Adjektiv und der Name der Schwester meiner Großmutter auf eine natürliche Weise miteinander verbunden.
Als der zweite Weltkrieg endete und das rote Kreuz in Shanghai endlich die Nachrichten über Herta erfuhr: die Neuigkeiten, dass beide, sie und ihr Ehemann für Tod gehalten wurden, nachdem sie am 12. November 1941 von Frankfurt am Main in das Minsker Ghetto deportiert worden waren, müssen meine Großmutter am Boden zerstört haben.
Helene war eine stoische und verschlossene Frau, die ihre Gefühle nicht gezeigt hat. Somit kann ich mir sie nicht wirklich vorstellen, wie sie den Tod ihres engsten Geschwisterkinds betrauert. Vielleicht ist das der Grund warum ich immer noch Herta mit dem englischen Wort assoziiere, der den Gesichtsausdruck meiner Großmutter beschreibt, als der Name ihres „fast Zwillings“ in den 1970ern erwähnt wurde - einige Jahrzehnte nach ihrer grausamen Deportation und ihrem Tod 1941. Ich hoffe, dass meine Großmutter nie die Details über die Deportation ihrer Schwester herausgefunden hat, weil diese mit einer unfassbar inhumanen 1,626 km Güterwagen-Fahrt einhergeht, welche kurz nach Hertas 43. Geburtstag begann - der letzte Geburtstag ihres kurzen Lebens.
Wenn ich an die fürchterlichen Erfahrungen von Herta, Walter und vielen weiteren Ochs-Angehörigen, deren Leben durch die Verfolgung der Nazis beendet wurden, denke, kann ich auf jeden Fall das Nachkriegs-Schweigen von Personen wie meiner Großmutter verstehen. Die traumatisierten Überlebenden versuchten so gut wie möglich mit ihrem Leben voranzuschreiten. Und für sie hieß voranschreiten in stummem Schmerz zu leben, ihre Methode um traumatisierende Erinnerungen zu verdrängen.
Trotzdem, glaube ich wirklich, dass sie die Arbeit, die derzeit von ihren jüngeren Familien-Mitgliedern und vielen fleißigen europäischen Forschern vollbracht wird, um zu gewährleisten, dass die Namen und Geschichten der Holocaustopfer zukünftigen Generationen bekannt sind, gutheißen würden. Ich glaube meine Großmutter würde wollen, dass die Menschen des 21. Jahrhunderts und folgende Generationen über die verlorenen Mitglieder der Ochs-Familie Gemündens Bescheid wissen.
Übersetzung: Daria Dinges/Christof Pies
[1] Walter, Paula, und Marlene Ochs sind alle auf dieser niederländischen Denkmalwebsite verzeichnet: https://www.joodsmonument.nl/en/page/151470/waldemar-ochs.