„Erwachet aus dem langen Schlafe!“
Der Kirchberger jüdische Lehrer Moses Mayer, gen. Eppstein, rief 1867 seine Kollegen in der überregionalen „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ dazu auf, trotz der ungünstigen Verkehrsverbindungen in „unserer abgeschlossenen Gegend“ enger zusammen zu rücken. Er sieht das Judentum auf dem Lande am Beginn eines neuen Aufbruches und interpretiert euphorisch die Wahl des jüdischen Kaufmanns Heymann in den Stadtrat als Zeichen für gleichberechtigte Teilnahme am öffentlichen Leben und eine zunehmende jüdische Emanzipation.
„So wie in allen Gauen Deutschlands, so zeigt sich auch endlich in unserer abgeschlossenen Gegend ein Fortschritt. Bei der gestrigen Stadtratwahl aber wurde zum ersten Male ein Jude, Kaufmann Heymann, gewählt, und zwar lediglich von Nichtjuden. Also ihr Kollegen der Bezirke Trier und Koblenz! So wie die Erde in dieser Zeit zu neuem Leben erwacht, so erwachet auch ihr Herren von Mosel und Saar, von Nahe und Glan, aus dem langen Schlafe! "
Landjudentum
Der Begriff des Landjudentums wurde erst gegen Ende des 20. Jahrhundert geprägt und bezeichnet die spezifische Form des deutsch-jüdischen Lebens vor 1933. Der Raum zwischen Rhein und Mosel ist seit mindestens 1000 Jahren von Juden bewohnt, vermutlich siedelten in der Spätantike im römischen Heeresdienst stehende Händler, Soldaten oder Winzer an den wichtigen Verkehrswegen. Lebten im Mittelalter die Mehrzahl der Juden in den Städten, flohen sie angesichts der hochmittelalterlichen Pestpogrome und wiederkehrender Verfolgungswellen nach Osteuropa oder auf das Land.
Die zentrale Lage zwischen vielen mächtigen Landesherrn und die territoriale Zersplitterung des Deutschen Reiches bis 1806 begünstigten die Niederlassung in bestimmten Orten des Hunsrücks, während wenige Meter weiter Juden unerwünscht waren. Als sog. Schutzjuden finanziell ausgenutzt, erhielten sie gegen hohe Zahlungen eine „Aufenthaltserlaubnis“, ein Schutzbrief gewährte ihnen ein Minimum an Sicherheit. Um 1800 lebten etwa 90% der deutschen Juden in Dörfern und Kleinstädten.
Berufsstrukturen
Trotz aller traditionellen Einschränkungen durch die christliche Mehrheitsgesellschaft integrierten sich die jüdischen Familien in das dörfliche oder kleinstädtische soziale und wirtschaftliche Leben. Da Juden lange Zeit vom Landerwerb ausgeschlossen waren, verdingte sich die überwiegende Mehrzahl als Händler, insbesondere Viehhändler. Handwerksberufe beschränkten sich zumeist auf die für die Ausübung religiöser Riten notwendigen Berufe wie Metzger (Schächter), Bäcker, Färber oder Textilbearbeiter. Bis ins 19. Jahrhundert gab es daneben umherziehende Kleinhändler, die mit Kleinwaren auf ihrem Rücken von Dorf zu Dorf zogen. So bildeten jüdische Geschäftsleute die Verbindung zwischen Stadt und Land, hatten gute Kontakte über die Dorfgrenzen hinweg, waren mobil, flexibel und "gut vernetzt".
Konservativität
Die französischen Dekrete und preußischen Gesetze eröffneten der jüdischen Bevölkerung des Landes neue Freiheiten sowie die erstmalige Anerkennung als Staatsbürger. Dadurch begünstigt erlebte das Landjudentum im 19. Jahrhundert einen nie dagewesenen Aufschwung. In immer mehr Hunsrückorten gründeten sich Gemeinden, die oft jedoch so klein waren, dass es gerade für den Minjan, die vorgeschriebene Anzahl von 10 Männern für die Abhaltung eines Gottesdienstes, reichte. Einen ausgebildeten Rabbiner konnten sich die kleinen Landgemeinden in der Regel nicht leisten. Die religiöse Praxis blieb so über Generationen hinweg einigermaßen unverändert erhalten und zeichnete sich durch eine ausgesprochene Frömmigkeit aus.
Ende des Landjudentums
Die Krisen der Weimarer Republik trafen die jüdischen Familien ebenso wie ihre christlichen Nachbarn, sodass viele in die Großstädte zogen oder ins Ausland auswanderten. Die Kinder der "Viehjuden" zogen nun andere Berufe vor, gingen auf höhere Schulen, verließen das Dorf. Ein Wandel des Landjudentums begann, der dann durch die Rassenpolitik der Nationalsozialisten gewaltsam beendet wurde. Die Jahrhunderte alte Tradition des Landjudentums fand damit ihr Ende.