Das Landjudentum - eine (fast) vergessene Lebensform
"Wir mussten uns alle plagen, ob Jude oder Christ"
Das Landjudentum - ein Begriff, der erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts geprägt wurde für die spezifische Form des deutsch-jüdischen Lebens vor 1933. Im MIttelalter lebten die Mehrzahl der Juden in den Städten, bis sie zur Zeit der hochmittelaterlichen Pestpogrome und antijudaistischen Verfolgungen (z.B. Werner-Pogrome am Mittelrhein, Armleder-Pogrome in Kirchberg) gezwungenermaßen nach Osteuropa flohen oder in die Dörfer zogen.
Schließlich lebten um1800 etwa 90% der deutschen Juden in Dörfern und Kleinstädten, eine Abwanderung in die Großstädte zeichnete sich gegen Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ab. Nach 1945 gibt es dieses organisierte jüdische Landleben nicht mehr, nur wenige der heute etwa 120.000 deutschen Juden leben auf dem Lande, gehen aber völlig anderen Berufen nach.
Die territoriale Zersplitterung des deutschen Reiches bis 1806 (Auflösung des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation durch Napoleon) macht generelle Aussagen über die Verfassung der jüdischen Gemeinden problematisch, gab es doch Landesherren, die Juden gerne aufnahmen, während sich in manchen Gegenden kaum Juden niederließen. Als sog. Schutzjuden finanziell ausgenutzt, fristeten sie in der frühen Neuzeit vielerorts ein ärmliches Dasein. Mit der Eingliederung des linksrheinischen Gebietes in das französische Rechtssystem konnten Juden die Auswirkungen der Schlagworte von "Freiheit, Gleicheit und Brüderlichkeit" wenigstens zeitweise und persönlich spüren. Durch die zwangsweise Annahme von Vor- und Familiennamen (1808), die Ausstellung von "Moralitätspatenten" und die Übernahme französischer Verwaltungsstrukturen können wir heute gerade für diese Zeit des Umbruches ein klareres BIld der jüdischen Bevölkerung in unserer Region nachzeichnen.
In preußischer Zeit ab 1815 blieben die meisten französischen Gesetze in Kraft, das "Judengesetz" von 1847 unterstellte die jüdischen Gemeinden der preußischen Verwaltungsaufsicht. Gerade zu dieser Zeit erlebt das Landjudentum einen nie dagewesenen Aufschwung. Im Rheinland hatten viele Gemeinden einen über 20%igen jüdischen Bevölkerungsanteil, so auch Gemünden und Laufersweiler, wobei erstere Gemeinde den spöttischen Namen "Klein-Nazareth oder Klein-Jerusalem" erhielt. Im Vergleich dazu lebten in Köln nur etwa 300 Juden. In vielen Orten waren die Gemeinden so klein, dass es gerade für den MInjan, die vorgeschriebene Anzahl von 10 Männern für die Abhaltung eines Gottesdienstes, reichte. Naturgemäß waren Händler von Missernten ebenso betroffen wie die christlichen Landwirte. Auswanderungswellen gab es deshalb auch bei der jüdischen Bevölkerung, v.a. aus Gemünden.
Eine vollständige Gleichberechtigung der jüdischen Bürger hat es bis 1919 (Weimarer Verfassung) nie gegeben. Trotz aller traditionellen Einschränkungen durch die christliche Mehrheitsgesellschaft integrierten sich die jüdischen Familien in das dörfliche oder kleinstädtische soziale und wirtschaftliche Leben. Viele Juden berichten in ihren Erinnerungen nach 1945 von einer intakten christlich-jüdischen Gesellschaft, in der sie als Geschäftsleute, Vereins- und Gemeinderatsmitglieder eine bedeutende Rolle spielten. Karrieren in der Armee oder der Verwaltung blieben ihnen bis in die Weimarer Republik verwehrt. Der erst spät einsetzende Landerwerb machte nur wenige zu Landwirten, die überwiegende Mehrzahl war Händler, insbesondere Viehhändler. In Kleinstädten versorgten sie ihre Kunden mit koscheren Produkten, Saatgut, Wein, Tabak, Holz oder industriellen Kleinwaren. Sie waren auch die ersten wandernden Banken, die gleichzeitig Kleinkredite vergaben oder Vieh für eine Zeitlang an Bauern ausliehen und so eine Form des "Vieh-Leasing" erfanden. Viele Berufe waren mit den religiösen Erfordernissen verknüpft: Metzger, Bäcker, Lederwaren, koschere Weinprodukte. Für alle finden wir Beispiele im Rhein-Mosel-Hunsrück-Raum. Bis ins 19. Jahrhundert gab es daneben umherziehende Kleinhändler, die mit Kleinwaren auf ihrem Rücken von Dorf zu Dorf zogen und sich ihren Lebensunterhalt verdienen mussten.
So bildeten jüdische Geschäftsleute die Verbindung zwischen Stadt und Land, sie kamen überall herum, hatten gute Kontakte über die Dorfgrenzen hinweg. Sie waren mobil, flexibel und "gut vernetzt". Die große Flexibilität war zudem darauf zurückzuführen, dass Juden nur in Einzelfällen Land besaßen und nicht an die Scholle gebunden waren. Wohlhabende Familien waren die Ausnahme, wie die Steuerlisten einzelner jüdischer Gemeinden zeigen. Von Reichtum konnte nur bei wenigen die Rede sein, alle waren von Wirtschaftkrisen, Wetterkatastrophen oder MIssernten betroffen wie ihre nicht-jüdischen Nachbarn. So ist auch der Anteil jüdischer Auswanderer Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts hoch. Hilde Guggenheim, geb. Forst sagt in ihren Erinnerungen: "Wir mussten uns alle plagen, ob Jude oder Christ".
Alle diese Menschen trugen zur Steigerung der ländlichen Wirtschaft bei. Als sie nach 1933 aus dem sozialen und wirtschaftlichen Leben ausgeschaltet wurden, ging die ländliche Wirtschaft zurück, "arische" Landwirte beschwerten sich massiv über die fehlenden Handelsmöglichkeiten, doch dies passte den Nazi-Ideologen nicht in ihr Weltbild.
Berühmte Künstler, Nobelpreisgewinner, Politiker kamen meist aus dem städtischen Bürgertum. Sie standen im Mittelpunkt des Interesses, besonders nach 1945, als man mit diesen positiven Beispielen die Assimilation und Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft vor 1933 beweisen wollte. Juden auf dem Lande wurden weniger beachtet, galten sie doch aus großstädtischer Sicht als konservativer und rückständiger Zweig des Judentums. Nach der Shoah gab es kaum jemanden auf dem Lande, der an das Landjudentum erinnerte, meist waren es vereinzelte deutsch-jüdische Historiker, die auf die bedeutende Rolle des Landjudentums hinwiesen. Lokale Studien scheiterten oft an dem Widerstand ehemaliger Nazi-Akteure, die eine Aufarbeitung der deutsch-jüdischen Vergangenheit verhinderten und sich positiveren und weniger konfliktbehafteten Themen zuwandten. So gerieten auch die materiellen Hinterlassenschaften der jüdischen Gemeinden (Synagogen, Friedhöfe, Mikwen, Schulgebäude) in Vergessenheit, ganz zu schweigen von den ermordeten Menschen.
Die auf wenige Bereiche beschränkte Wirtschaftstätigkeit auf dem Lande machte vor allem die jüdische Bevölkerung angreifbar gegenüber antisemitischer Propaganda, die es schon vor 1933 gab: Während ihre Nachbarn auf den ererbten kleinen Feldern ihre schwere Handarbeit verrichteten, verdienten jüdische Kaufleute scheinbar durch Reisen ihren Lebensunterhalt. Am Shabbat ruhten sie sich aus, ließen sich von christlichen Dienstmägden bedienen, am christlichen Sonntag ruhte das Wirtschaftsleben ebenfalls. Diese Zerrbilder waren Bestandteil der antisemitischen Propaganda, manche sind bis heute nicht verschwunden.