Zukunft der Erinnerungskultur? Interaktives Zeitzeugnis in der ehemaligen Synagoge Laufersweiler

Was passiert, wenn es keine ZeitzeugInnen mehr gibt, die von Shoah und Exil erzählen können? Wie wird sich unsere Erinnerung verändern? Schon seit Jahrzehnten wird das Ende der Zeitzeugenschaft befürchtet. Damit verbunden ist die Sorge, dass ohne direkte AugenzeugInnen die Erinnerung an den Holocaust und seine Opfer verblassen könnte. Mit dem Zeitzeugen Kurt S. Maier entwickelte das Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek ein interaktives 3D-Interview in digitaler Form – eine Alternative zum „echten“ Zeitzeugengespräch? Am 27. Januar, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, besuchte Dr. Sylvia Asmus, Leiterin des Exilarchivs, mit ihrem Team und dem Zeitzeugnis die ehemalige Synagoge Laufersweiler, um das Projekt vorzustellen.

Das Zeitzeugnis Kurt S. Maier

Kurt S. Maier wurde 1930 in Kippenheim im Schwarzwald geboren. Als 11-Jähriger floh er mit seiner Familie vor der nationalsozialistischen Verfolgung in die USA. Seine Lebensgeschichte umfasst nicht nur die Erfahrung des Exils, sondern auch die Zwangsdeportation der badischen JüdInnen im Herbst 1940 in das französische Lager Gurs am Fuße der Pyrenäen. Im Juli 2021 fanden die Aufnahmen für das Interview in Washington statt. An insgesamt fünf Tagen beantwortete Maier etwa 900 Fragen, die alle als separate Videoclips aufgezeichnet wurden. In der Gesprächssituation wandelt eine Computersoftware die Fragen der NutzerInnen in Suchbegriffe um, ordnet diesen die entsprechenden Antworten Maiers aus der Datenbank zu und erweckt so den Eindruck der Interaktion.

Dr. Kurt S. Maier im Studio während der Aufnahmen für das interaktive Interview. Foto: DNB / Theresia Biehl

Perspektivisch wird das interaktive Zeitzeugnis von Kurt S. Maier ab Sommer 2023 im Ausstellungsbereich des Deutschen Exilarchivs 1933-1945 öffentlich als 3D-Projektion präsentiert. Doch seit dem 17. Januar tourt das Exilarchiv mit dem Projekt durch verschiedene Regionen Deutschlands, um das innovative Angebot außerhalb Frankfurts bekannt zu machen (siehe auch auf dem Blog der DNB: Das interaktive Zeitzeugen-Interview auf Tour). Auch die BesucherInnen der ehemaligen Synagoge konnten so einen ersten Blick auf das Projekt werfen, es ausprobieren und mit ihren Fragen an der Verbesserung der Software mitwirken.

Die erste Begegnung mit einem Zeitzeugen

Im Rahmen eines Studientages besuchten SchülerInnen der Oberstufe der IGS Kastellaun die ehemalige Synagoge und zeigten sich schnell fasziniert von der Technik des interaktiven Zeitzeugnisses. Besonders interessiert waren sie an Maiers Ausgrenzungserfahrungen, aber auch an seinem heutigen Blick auf die einstige Heimat und aktuelle politische Entwicklungen in Deutschland. In der Feedback-Runde zeigten sich die SchülerInnen begeistert von der Möglichkeit des Befragens, denn für sie war es das erste Zeitzeugengespräch. Die Interaktion mit dem digitalen Zeitzeugnis war von großer Offenheit geprägt, da sie keine Hemmungen hatten auch unmittelbar nach schrecklichen Erlebnissen zu fragen – etwas, das sie eigenen Aussagen zufolge einer natürlichen Person so wohl nicht zugemutet hätten. Ihr Fazit: „Das interaktive Zeitzeugnis ist eine gute Möglichkeit, die Situation des Befragens für zukünftige Generationen zu erhalten, denn diese werden nicht mehr die Möglichkeit haben in den persönlichen Austausch mit ZeitzeugInnen treten zu können.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Links: Die Schulklasse der IGS-Kastellaun in Interaktion mit dem Zeitzeugnis Kurt S. Maier. Rechts: Auch Dieter Burgard, ehemaliger Beauftrager für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen in Rheinland-Pfalz, nahm den Holocaust-Gedenktag zum Anlass für einen Besuch und stand den SchülerInnen Rede und Antwort.

Grenzen des Zeitzeugnisses

Mit größerer Skepsis und Zurückhaltung begegneten dem Zeitzeugnis hingegen die BesucherInnen der offenen Abendveranstaltung. Ihre Fragen konzentrierten sich eher auf das Projekt selbst, die dahinterstehende Technik und die Möglichkeiten und Grenzen digitaler Formate. Nur zögerlich stellten sie Fragen an das Zeitzeugnis selbst. Zwar zeigten sie sich angesprochen von Maiers Geschichte und der Umsetzung des Angebots, doch mit der Intensität und Präsenz eines „echten“ Zeitzeugengesprächs könne das aufgezeichnete Interview in ihren Augen nicht mithalten. Die persönliche Begegnung, in der beide Seiten die Möglichkeit hätten, aufeinander zu reagieren, mache die Interaktion viel komplexer und sei daher nicht so einfach zu ersetzen.

Dass Möglichkeiten limitiert seien und das System nicht immer fehlerfrei funktioniere, betrachteten die BesucherInnen nicht als Schwäche. Ganz im Gegenteil: „Es beruhigt mich, dass die Illusion nicht perfekt gelingt. Zum Glück befinden wir uns nicht in einem Science-Fiction-Film. Es bleibt sichtbar, dass das Zeitzeugnis ein Medium mit Grenzen ist.“

 

 

 

 

 

 

 

 

Links: Dr. Sylvia Asmus (erste Reihe, links), Direktorin des Exilarchivs, war selbst zu Gast in der Synagoge und stellte den BesucherInnen das interaktive Zeitzeugnis vor.

Authentizität bewahren

Auch Dr. Sylvia Asmus betonte, dass das Zeitzeugnis einen sensiblen und verantwortungsvollen Umgang verlange, den es unbedingt zu achten gelte. Kurt S. Maier sei daher die erste Person gewesen, die das Projekt ausprobiert und freigegeben hätte. Veränderungen an der Software würden eng mit ihm abgesprochen, um sein Einverständnis mit der Präsentation seiner Geschichte jederzeit sicherzustellen. Damit einher gehe, dass Maiers Antworten zu keinem Zeitpunkt manipuliert, verändert oder geschnitten worden seien. Das Computersystem würde niemals Antworten künstlich erzeugen, sondern nehme lediglich die Zuordnung zwischen Frage und Antwort vor. Darüber hinaus würden sie streng auf ein ernsthaftes und seriöses Setting der Zeitzeugengespräche achten, weshalb das Zeitzeugnis stets von MitarbeiterInnen begleitet würde. Dies alles trage dazu bei, auch bei dieser Form des Zeitzeugengesprächs die Authentizität des Erzählten sicherzustellen.

„Ich werde mich noch in hundert Jahren freuen...“

Wie ein echter Zeitzeuge verfällt Maier hin und wieder ins Erzählen und verliert darüber den Bezug zur ihm gestellten Frage. Kann das System keine Zuordnung zwischen Frage und Antwort vornehmen, spielt es einen Clip ab, in dem Maier verschmitzt in die Kamera lächelt, mit den Schultern zuckt und sich dafür entschuldigt, dass er diese Frage nicht beantworten kann. Es sind Momente, in denen die Persönlichkeit Maiers etwas plastischer wird und ein Gefühl für den echten Menschen hinter bzw. in den Aufnahmen aufkommt. Wie andere Zeitzeugen hat auch Maier seine ganz eigene Art sein Schicksal zu erzählen. In der Summe der Antworten wird deutlich, dass Maier als positiver Mensch mit selbstbestimmter Geschichte wahrgenommen werden möchte: „Ich habe hiermit etwas Wichtiges in meinem Leben erreicht. Ich werde mich noch in hundert Jahren freuen, wenn die Menschen sagen, wie schön dieser Mensch mit uns gesprochen hat.“

Vanessa Gelardo (vorne), Mitarbeiterin des Exilarchivs, und die Klasse der IGS Kastellaun setzen ein Zeichen zum Holocaust-Gedenktag.